Ein Brief der Tiefenökologin Joanna Macy


Diesen Brief hat Joanny Macy  zu Thanksgiving auf ihrer Website veröffentlicht.

http://www.joannamacy.net/

Wir haben ihn hier ins Deutsche übersetzt.

Ich weiß, dass viele von Euch gehofft haben, früher von mir zu hören, und ich habe es auch wirklich versucht. Ich haben drei Briefe angefangen, sie jedoch jedes Mal verworfen, weil sie der Situation nicht gerecht wurden. Sie klangen entweder hysterisch oder flach.

Ich habe mich gefragt:
Wie kann ich gleichzeitig ehrlich sein

und doch keine Angst verbreiten?

Wie kann ich klarstellen, dass das Spiel vorbei ist,

wir aber gleichzeitig niemals aufgeben dürfen?

Vielleicht ist jenes Spiel vorbei, in dem wir uns die Normalität vorgegaukelt haben. Vielleicht ist der Mummenschanz jetzt endgültig vorbei und die Tatsachen endlich auf dem Tisch: Millionen von Seelen sind bereits in Gefängnissen, Millionen Menschen sind bereits namenlos verschleppt, über die Hälfte Amerikas lebt bereits in Armut und der Rest von uns macht einfach mit seiner Tagesordnung weiter. Vielleicht ist jetzt tatsächlich die Illusion vorbei, dass wir ein gutes Leben erreichen können, ohne uns allzu sehr anstrengen zu müssen.

  

Nun bringt ein triumphierender Trump die Aspekte zurück auf die Bühne, die schon auf Abruf bereit standen: die Herren von Kohle und Öl, die Meister des Überwachungsstaates, die weißen Supermächte, die kriegsbereiten Generäle, die Chauvinisten, die die Frauen wieder in ihre alten Rollen zurückdrängen wollen.

So ist es gut, dass wir uns wieder aufeinander besinnen, unsere Kraft und unsere Vernunft ineinander finden. Es ist auch gut, dass wir wieder die Sehnsucht haben, heilige Räume zu schaffen und Räume bereit halten für die Gehassten und Gejagten.  

Ich bin glücklich darüber, dass sich viele Menschen wieder in ihren Gemeinschaften, in Schulen und an ihren Arbeitsplätzen versammeln werden und ihre Gedanken und Gefühle miteinander teilen können. Lasst uns Menschen einladen, miteinander zu reden und einander wirklich zuzuhören. Einige von uns bieten Prozesse und Methoden aus der Tiefenökologie an, der Arbeit, die wieder verbindet.  Das ist nicht nur lohnend, das ist essentiell notwendig. Denn Isolation und Angst verstärken sich gegenseitig.

Für mich selber praktizierte ich gestern die Brahmaviharas (auch Die vier himmlischen Verweilzustände genannt: Liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut), die wir auch beispielsweise in unserem Workshop "Lernen, einander zu sehen" integrieren. Dabei hat mich eine neue Welle der Angst eingeholt. Inmitten dieser Welle habe ich mich selbst daran erinnert wie ich immer gesagt habe: "Wenn wir die Brahmaviharas ausüben, gibt es keinen Raum für Angst."

Diese Erinnerung half mir und ich erzählte meinem Augenarzt von der Welle der Angst, die mich überfallen hatte und die ich noch körperlich spüren konnte.  Zum ersten Mal in all den Jahren, die mich Dr. L. behandelte, brach er seine Untersuchung ab, und begann über sein Leben zu sprechen. Er erzählte mir, welche Auswirkungen die Wahl Trumps auf einen Amerikaner mit chinesischen Eltern hatte, vom Stress seiner Frau , die tagelang nichts essen konnte, von ihren Kindern, verwirrt und aufgeregt. Sein Freund, ein Amerikaner chinesischer Abstammung, der als Arzt für chinesische Medizin TCM am VA Krankenhaus arbeitet, wurde an einer Straßenecke als Schlitzauge angegriffen, der nicht in unser Land gehöre. 

Wieder einmal habe ich es erlebt: Immer, wenn wir uns öffnen für das Leid um uns herum, werden wir wahrhaftiger. Selbst inmitten von Trauer und Angst sind wir nicht allein. Das Mysterium im Kern unserer Existenz ist so einfach: Wir werden in einem Netz gegenseitiger Zugehörigkeit gehalten.

Weil die Welt uns gerade jetzt ganz besonders braucht, wie wir unsere Werte praktizieren, und um in unsere Kraft zu kommen, ist es wichtig, eine Prioritäten-Liste aufzustellen. Hier ist meine eigene Liste:

  • Triff Dich wöchentlich mit einer engagierten Gruppe, kommt miteinander in die Tiefe, spürt hin, was los ist und teilt Eure Fragen und Antworten miteinander.
  • Verstärke die Maßnahmen, Menschen zu schützen, die belästigt, bedrängt und verfolgt werden.
  • Unterstütze Bewegungen, die sich gegen die globale Erwärmung und Atomwaffen richten einschließlich der Menschen in Dakota am Standing Rock.
  • Lies gemeinsam mit anderen Menschen Bücher über kreative Gewaltfreiheit von Gemeinschaften, wie z.B. das Buch von Erica Chenoweth and Maria J. Stephan Warum bürgerlicher Widerstand wirkt.
  • Bleib weiter dran an Deiner Meditationspraxis.
  • Teile die Arbeit, die wieder verbindet!

 

In dankbarer Liebe und Solidarität,

Joanna

Kommentare

Bild des/r Benutzers/in Anne Schneider

Danke für`s Einstellen dieses Briefes von Joanna.

Ja, man muß auch mal deprimiert sein dürfen und dann - weitermachen!

Bild des/r Benutzers/in Gesa Maschkowski

Dankeschön Finden und Übersetzen!

Gesa